Die Umsetzung der vier Kampfprinzipien und Kraftsätze vom Körperlichen ins Verbale
31.08.2005
Großmeister Kernspecht gibt Vorschläge und Anwendungsbeispiele für die Umsetzung der körperlichen Kraft- und Kampfprinzipien des WingTsun auf der sprachlichen Ebene.
1. Satz: Ist der Weg frei, geh vor!
Körperlich: Wir schieben unsere Arme vor, um Kontakt mit den angreifenden Armen des Aggressors aufzunehmen.
Verbal: Wir antworten dem Aggressor und schicken eine freundlich- selbstsichere Entgegnung an seine Adresse.
2. Satz: Ist der Weg versperrt, bleib kleben!
Körperlich: Wenn wir ihn nicht erreichen, weil wir auf seine größere Kraft treffen, ziehen wir unsere Arme nicht zurück, sondern bleiben „kleben“.
Verbal: Wenn unsere Antwort die Aggression nicht entschärfen kann, halten wir Sprachkontakt, damit die Situation nicht ins Körperliche eskaliert.
3. Satz: Ist die Kraft des Gegners zu groß, gib nach!
Körperlich: Wenn die Kraft des Angreifers unsere an einem Punkt übersteigt, geben wir nach, drücken uns von ihm weg und weichen ihm dadurch aus.
Verbal: Wenn seine Aggression andauert oder wächst, geben wir ihm einfach Recht, entschuldigen uns überschwenglich, aber auf keinen Fall ironisch:
„Sie haben völlig Recht, das war absolut idiotisch von mir, meine Mutter sagt auch immer: Fridolin, glotz die Leute nicht so an!“
Oder wir weichen aus, so dass sein Angriff ins Leere geht. Aber wir beantworten seine Beleidigung nicht mit einer Retourkutsche.
Wir gehen nicht gegen seine Beschimpfung an, denn im WT gehen wir nie gegen den Angriff des Gegners an. wir sind niemals gegen etwas, denn es lässt uns verkrampfen und erstarren, macht uns fixiert und bindet uns an den anderen. Wir blocken ihn nicht verbal, sondern lassen den verbalen Angriff einfach ins Leere gehen, indem wir ihn ignorieren, so tun, als ob er etwas Nettes gesagt hätte, oder indem wir eine paradoxe Antwort geben, die aber auch gar nichts mit seinem Spruch zu tun hat: „Haben Sie gewusst, dass die Bulgaren den Kopf schütteln, wenn sie Ja meinen?“
Mit der paradoxen Antwort erreichen wir den Zweck, den ich in „Angriff ist die beste Verteidigung“ mit dem Ankerwort („Deine Mutter, wann hat die Geburtstag?“) beabsichtigte: Wir haben den Kontrahenten verwirrt, sein Verstand muss nun Sinn in die Unsinnsfrage bringen und ist voll beschäftigt, da jeweils nur ein Gedanke zur Zeit gedacht werden kann. Diese Zeit und Verwirrung nutzen wir, um uns umzudrehen und ihn stehen zu lassen.
4. Satz:
Körperlich: Wenn der Gegner (sich) zurückzieht, folge!
Verbal: Wenn der Gegner sich zurückzieht, weil er den Mut verloren oder vielleicht nur geblufft hat, können wir (wenn wir denn unbedingt wollen) nachsetzen und folgen, um vollends zum Gewinner zu werden.
DIE UMSETZUNG DER VIER KRAFTSÄTZE
1. Satz von der Kraft:
Körperlich: Befreie Dich von Deiner eigenen Kraft, indem Du Dich (z.B. durch das Üben der Siu-Nim-Tau-Form) entspannen lernst, die sog. Antagonisten ausschalten übst.
Mental:
Befreie Dich von neurotischem, zwanghaften Denken und Sprechen.
Befreie Dich von der Herrschaft der (linken) verbalisierenden Gehirnhälfte.
Befreie Deine Sinne von Dumpfheit.
Befreie Dich von Deinem übermächtigen Ego, erkenne Dich als Teil des Universums, in das Du am Ende Deines Menschenlebens zurückkehren wirst.
2. Satz von der Kraft:
Körperlich: Befreie Dich von der Kraft des Gegners.
Mental: Wenn Du Dich von Deinem Ego befreit hast, kann die verbale Aggression Dich weder provozieren, noch können Worte Dich in lähmende Angst versetzen.
Lass Dich nicht von der schlechten Laune des anderen anstecken, denn sonst gewinnt er Macht über Dich.
Lasse seine Worte nicht in Dich eindringen.
Überhöre seine Bemerkung, denn: „Sticks and stones will break my bones, but words can never hurt me.“ („Stock und Stein bricht mein Bein, aber Worte vom Wicht verletzen mich nicht.“)
Lasse Dich nicht darauf ein, auf kleinste Sticheleien zu reagieren. Ehe Du Dich versiehst, steckst Du mitten in einem handfesten Streit, weil ein Wort das andere nach sich zieht. Den Worten folgt der Gedanke und auf den Gedanken die Tat. Lohnt sich das Ganze? Nimm die Feindseligkeit nicht persönlich. Es hat nichts mit Dir zu tun. Gewinne Distanz, so dass die Aggression Dir nicht unter die Haut geht. Benutze dazu Atem-Techniken und Autosuggestion.
3. Satz von der Kraft:
Körperlich: Verwende die Kraft des Gegners zu Deinem Vorteil. Lasse Dich durch seinen Angriff in Sicherheit drücken.
Mental: Wenn Dein Gegner droht: „Verpiss dich oder ich mach dich fertig!“, dann gehe doch einfach weg.
Wenn er sich aufbläst und wichtig macht: „Der Platz ist besetzt, hau ab!“ dann bedanke Dich: „Vielen Dank für den guten Rat, ich bin zum ersten Mal hier.“ Mehr Energie und Zeit kannst Du gar nicht sparen bzw. gewinnen
4. Satz von der Kraft:
Körperlich: Ergänze die Kraft des Gegners durch Deine eigene Kraft.
Mental: Wenn der andere Dich beschimpft: „Kannst du nicht aufpassen, du Trottel!“, dann gib ihm nicht nur Recht, sondern haue selbstanklagend in dieselbe Kerbe und jammere theatralisch:
„Sie haben ja so Recht, ich bin ja sooo ungeschickt. Alles misslingt mir. Was ich anfasse, geht schief. Ich bin nur eine Belastung für meine Mitmenschen.“ Ich habe es schon erlebt, dass der andere plötzlich umschwenkt und mich in Schutz vor mir selbst nahm und knurrte: „Na ja, so schlimm ist es ja auch wieder nicht. Pass nächstes Mal besser auf.“
Achtung:
Mache Dir dabei bewusst, dass Du umso überzeugender auftreten kannst, je mehr Du Dich auf Deine körperlichen Selbstverteidigungsfähigkeiten verlassen kannst, denn nur der Starke darf sich schwach darstellen, nur der Kampfbereite täuscht Kampfunfähigkeit vor.
Daraus folgt, dass ein schwächerer Mann oder die meisten Frauen, die es mit einem körperlich stärkeren Gegner zu tun haben, eine in vielen Punkten völlig entgegengesetzte Strategie der Stärke (!) verfolgen müssen.
All diese Ausweichmanöver, die den Angriff ins Leere laufen oder den Gegner verwirrt und verstört zurücklassen, setzt Du dann ein, wenn der andere für vernünftige Argumente nicht erreichbar ist oder Du keine Zeit oder Lust hast, Dir von ihm Lebenszeit, gute Laune und Energie stehlen zu lassen.
Kommentar des Freiherrn von Knigge:
„Werde nie hitzig oder grob gegen Deine Feinde, weder in Gesprächen noch in Schriften; und wenn böser Wille und Leidenschaft, wie es mehrenteils geschieht, bei ihnen im Spiel ist, so lasse Dich auf keine Art von Explikation (= Erklärung) ein …“
Keith R. Kernspecht
Anmerkung: Dass diese Vermeidungsmethoden nicht in allen Fällen eingesetzt werden können, dass sie z.B. kaum gedacht sind für Polizeibeamte, Türsteher usw. (die aufgrund ihrer Rolle ihren Respekt schützen müssen, um am nächsten Tag nicht noch mehr Ärger zu bekommen) versteht sich von selbst. Ebenfalls sind viele dieser (z.T. Selbst-)Deeskalations-Methoden nicht für solche Personen geeignet, die tatsächlich an geringem Selbstwertgefühl leiden.
Wer sich stark genug dafür fühlt, kann ja mal bewusst damit spielen und experimentieren. Von Euren Erfahrungen würde ich gerne lesen und – mit Eurem Einverständnis – berichten!
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